Karl R. Popper: Philosophie als Aufklärung des Alltagsverstandes
Alle Menschen sind Philosophen. Auch wenn sie sich nicht bewusst sind philosophische Probleme zu haben, so haben sie doch jedenfalls philosophische Vorurteile. Die meisten davon sind Theorien, die sie als selbstverständlich akzeptieren: Sie haben sie aus ihrer geistigen Umwelt oder aus der Tradition übernommen.Da nur wenige solcher Theorien uns ganz zum Bewusstsein kommen, sind sie Vorurteile in dem
Sinne, dass sie ohne kritische Prüfung vertreten werden, obwohl sie von großer Bedeutung für das
praktische Handeln und für das ganze Leben der Menschen sein können.
Es ist eine Rechtfertigung der Existenz der professionellen oder akademischen Philosophie, dass es notwendig ist, diese weit verbreiteten und einflussreichen Theorien kritisch zu untersuchen und zu überprüfen.
Solche Theorien sind die Ausgangspunkte aller Wissenschaft und aller Philosophie. Sie sind unsichere Ausgangspunkte. Jede Philosophie muss mit den unsicheren und oft verderblichen Ansichten des unkritischen Alltagsverstandes anfangen. Ziel ist der aufgeklärte, kritische Alltagsverstand. die Erreichung eines Standpunktes, der der Wahrheit näher ist, und
der einen weniger schlimmen Einfluss auf das menschliche Leben hat. [...]
Ich gebe zu, dass es einige sehr subtile und gleichzeitig überaus wichtige Probleme in der
Philosophie gibt, die ihren natürlichen und einzigen Platz in der akademischen Philosophie haben, beispielsweise die Probleme der mathematischen Logik und, allgemeiner, die der Philosophie der Mathematik. Ich bin höchst beeindruckt von den erstaunlichen Fortschritten, die auf diesen Gebieten in unserem Jahrhundert gemacht wurden.
Aber was die akademische Philosophie im Allgemeinen betrifft, so beunruhigt mich der Einfluss derer, die Berkeley die minuziösen Philosophen (the minute philosophers) zu nennen pflegte. Gewiss, die kritische Einstellung ist das Herzblut der Philosophie. Aber wir sollten uns vor Haarspaltereien hüten. Eine minuziöse, kleinliche Kritik kleinlicher Angelegenheiten, ohne Verständnis der großen Probleme der Kosmologie, der menschlichen Erkenntnis, der Ethik und der politischen
Philosophie und ohne das ernsthafte und hingebende Bemühen sie zu lösen scheint mir verhängnisvoll zu sein.
Es sieht fast so aus, als ob jeder gedruckte Absatz, der mit einiger Anstrengung missverstanden oder mißinterpretiert werden könnte, einen weiteren
kritisch-philosophischen Aufsatz rechtfertige. Scholastik, im übelsten Sinne dieses Wortes, gibt es im Überfluss. Große Ideen werden eiligst unter einer Flut von Worten begraben. Auch scheint eine gewisse Arroganz und Ungeschliffenheit - einst eine Seltenheit in der philosophischen Literatur - von den Herausgebern vieler Zeitschriften für ein Zeichen von
Kühnheit des Denkens und von Originalität gehalten zu werden.
Ich glaube, es ist die Pflicht jedes Intellektuellen sich seiner privilegierten Stellung bewusst zu sein. Er hat die Pflicht einfach und klar und in einer möglichst
zivilisierten Art zu schreiben und weder die Probleme zu vergessen, die die Menschheit bedrängen und die neues, kühnes und geduldiges Nachdenken erfordern, noch die sokratische Bescheidenheit - die Einsicht dessen, der weiß, wie wenig er weiß. Im Gegensatz zu den minuziösen Philosophen mit ihren kleinlichen
Problemen sehe ich die Hauptaufgabe der Philosophie darin, kritisch über das Universum und unseren Platz in ihm nachzudenken sowie über die gefährliche Macht unseres Wissens und unsere Kraft zum Guten und zum Bösen.