Freude — Freiheit — Götterfunken
Daß Leonard Bernstein bei seiner Berliner Weihnachtsaufführung von Beethovens Neunter
im letzten Jahr „Freiheit“, statt „,Freude‘ schöner Götterfunken“ singen ließ, war vielleicht
ganz im Sinne des jungen Schillers ■ Von Uwe Martin
Kaum hatte sich der politische Begriff der Freiheit mit neuer Wirklichkeit angefüllt, da wurde
er auch schon mit Kultur und Kommerz verbunden. Daß Leonhard Bernstein zu Weihnachten
in Berlin seine, bzw. Beethovens 9. Symphonie auf Freiheit statt auf Freude singen ließ, war
eine spontane Verbeugung vor dem derzeit freiheitstrunkenden genius loci. Daß die CD-
Aufnahme davon mit Original-Berliner Mauerbröckchen garniert verkauft wird und Ullstein
sein aktuelles Berlin-Bilderbuch unter dem Titel Freiheit — schöner Götterfunken anpreist,
gehört zur kommerziellen Strategie.
Die Frage, wie Schillers enthusiastisches Gedicht legitimerweise heißt, hieß oder heißen kann,
sollte nicht leichtfertig entschieden werden. Sie hat ihre Geschichte, die möglicherweise etwas
älter ist als der Erstdruck des Gedichts „An die Freude“, den Schiller 1785 in seiner
Zeitschrift 'Thalia, Zweytes Heft‘ erscheinen ließ. Handschriftliche Entwürfe dazu gibt es
nicht oder sind nicht bekannt.
Es gibt aber einen Bericht von Friedrich Ludwig Jahn, dem Turnvater, den dieser 1849 im
'Bremer Sonntagsblatt‘ veröffentlichte. Wolfgang Altendorf hat ihn gefunden und in 'Das
gelbe Heft‘ 1976/4 kommentiert. E. Hennemuth hat ihn in 'Das Goetheanum‘ 1979/6 etwas
ausführlicher wiedergegeben und kommentiert, doch blieben beide Veröffentlichungen in der
Fachwelt unbeachtet.
Jahn berichtet, wie er zu Anfang der 90er Jahre des 18.Jahrhunderts im Jenaer Studentenkreis
gegen Schillers Lied „Freude schöner Götterfunken“ polemisierte. In dem darauf
entstandenen Streit habe ein Mann das Wort ergriffen und gesagt: „...Schiller hat nie ein „Lied
an die Freude“ gedichtet, und es hieß erst „Freiheit, schöner Götterfunken“, aber der Censor
strich Freiheit, da mußte Freude eingetauscht werden. Und nach meiner Handschrift ist es
gedruckt worden, ich war damals Schreiber bei Schiller./ Der Mann hieß Heubner und hatte
nur eine Hand ...“
Dieser Bericht von Jahn wurde gut ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen geschrieben,
und der Zeuge Heubner ist anderweitig nicht bekannt geworden. Welches Interesse hätte Jahn
aber haben können, diese Geschichte zu erfinden? Zwar ist von einem offiziellen Zensor in
Mannheim nichts bekannt, aber der Hofkammerrat Christian Friedrich Schwan hatte als
Verleger von Schiller schon glättend auf „Die Räuber“ Einfluß genommen. Warum sollte er
nicht auch für den Tausch von Freiheit in Freude verantwortlich sein? Er meint es ja gut mit
dem jungen Mann, wollte ihm sogar seine Tochter zur Frau geben, wenn der nur mit dem
Gedichtemachen aufhören würde. Und so eine kleine Konzession zugunsten Drucklegung,
Sicherheit und Karriere, wo Schillers jugendlicher Freiheitsbegriff ohnehin eben etwas ins
Gleiten zu geraten begann, wäre die wirklich undenkbar?
Freiheit war der zentrale Begriff der Zeit. Der Kampf für Vernunft, Freiheit und Humanität
war für den jungen Schiller der Sturm- und Drangzeit eine dauernde
Menschheitsverpflichtung. Im November 1781 hatte Schiller den Freiheitsmärtyrer Schubart
auf dem Hohenasperg besucht. Von ihm ist offenbar das Gedicht „Die schlimmen
Monarchen“ inspiriert. Noch aus dem Jahr der Flucht aus Stuttgart (1782) stammt das Gedicht
„Männerwürde“, in dem es heißt: „Tyrannen haßt mein Talismann / und schmettert sie zu
Boden“. Auch Schillers starke Kontrafaktur zu Klopstocks Ode „Das neue Jahrhundert“
stammt von 1782:
Klopstock: O Freiheit,
Silberton den Ohren,
Licht dem Verstand und
hoher Flug zu denken,
Dem Herzen groß Gefühl!
Schiller: O Knechtschaft
Donnerton dem Ohre
Nacht dem Verstand und
Schneckengang im Denken,
Dem Herzen quälendes Gefühl!
Die wichtigsten Antriebsquellen für Schillers Dichtung dieser Jahre sind Auflehnung gegen
Leibeigenschaft, Despotismus und Regelzwang sowie Begeisterung für Kraft, Freiheit,
Schönheit, Echtheit, Emanzipation von gesellschaftlichen Bindungen, kolossalische Größe
(W. Hinderer). Ob die Inhalte dieses Gefühls- und Gedankenfeldes nun politisch bestimmt
waren oder nicht, ob sie positiv oder negativ akzentuiert erscheinen; alle Gedanken lassen
sich auf den zentralen Begriff, die Idee der Freiheit bringen, die neue Jahrhundertidee, wie
Klopstock sie verstand.
Die Entstehungszeit des Gedichts ist nicht genau zu ermitteln. Es gibt Anhaltspunkte, die auf
das Jahr 1784 hinweisen, als Schiller bereits am „Don Carlos“ arbeitete. Eine auffällige
Parallele legt dafür eine Urfassung des Liedes „Freiheit“ statt „Freude“ nahe. Posa beschwört
König Philipp: „Sehen Sie sich um / in der herrlichen Natur! Auf Freiheit / ist die gegründet
— und wie reich ist sie durch Freiheit!“(Vgl. dazu im Lied Strophe 3). Der Befund zugunsten
einer Freiheitsfassung wird bekräftigt durch Schillers Brief an Körner vom 7.5.85: „ … Ich
...preise den selig, dem es gegeben ward, der Mechanik seiner Natur nach Gefallen
mitzuspielen und das Uhrwerk empfinden zu lassen, daß ein freier Geist seine Räder treibt.“
Wie könnte auch Freude „die Räder in der großen Weltenuhr treiben“ (vgl. Strophe 4)? Ein
Ausspruch, den Charlotte von Kalb in ihren Gedenkblättern Anfang Dezember 1784 Schiller
in den Mund legt: „Wir fühlen beide: wer nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund ...“ ist
nahezu Zitat des 5. und 6. Verses der 2. Strophe und bezeugt, daß mindestens ein Teil des
Gedichtes schon 1784 in Mannheim entstand und nicht erst ab April 1785 bei Körner in
Leipzig.
Damit sind die zeitgenössischen Quellen ausgeschöpft. Darüberhinaus sprechen für eine erste
Freiheitsfassung des Gedichts sorgfältige Textanalyse und die Tatsache, daß es zur Zeit der
Französischen Revolution als ausgesprochenes Revolutionslied galt, von dem berichtet wird
(J. Venedey 1870 und W.R. Griepenkerl 1838), daß es häufig auf Freiheit statt Freude damals
gesungen wurde.
Auch der junge Beethoven, der das Gedicht schon in Bonn kennenlernte und es ähnlich wohl
wie sein Revolutionslied „Der freye Mann“ komponieren wollte, wird es in seinem
republikanischen Bonner Freundeskreis vermutlich auf Freiheit mitgesungen haben. Im Wien
der Restauration spielte die Frage nach der Textfassung schon darum keine Rolle, weil
Schillers Werke bis 1817 noch von der Zensur verboten waren, obwohl Schiller 1803 noch
eine geglättete Freudenfassung publizierte (s.u.). Es ist bemerkenswert, daß zwei Flüchtlinge
aus Hitlerdeutschland, die für die Idee der Freiheit also besonders sensibel waren, Wilhelm
Unger in London und Georg Lukács in Moskau, beide ohne philologisch-historischen
Apparat, nur durch Textanalyse zu dem Schluß gekommen sind, „An die Freude“ müsse
ursprünglich „An die Freiheit“ gehießen haben.
In den folgenden Versuch einer Textanalyse der Erstdruckfassung im Hinblick auf eine
behauptete frühere Freiheitsfassung des Gedichts sind Argumente früherer
Interpretationsversuche stillschweigend eingeschlossen:
Strophe 1: Da Freude als Gemütsverfassung nicht Ursache, sondern Wirkung eines höheren
Prinzips ist, wäre schon im 1. Vers sinnvoller „Freiheit“ einzusetzen. - Freude kann trunken
machen. Feuertrunkenheit ist aber wohl eher der Idee der Freiheit zuzuordnen (Vers 3).
Freude kann eine „Himmlische“ sein (Vers 4). In einem „Heiligtum“ ist sie aber nach der
poetischen Nomenklatur der Zeit kaum anzusiedeln, da sie auch sehr profanen Ursprung
haben kann. An heiligem Ort ist viel eher die Freiheit zu suchen. - Undenkbar ist (Verse 5-8),
daß Freude die durch das Schwert aufgerichteten Schranken der Klassengesellschaft aufheben
könnte. Das bedeuten aber die Verse 5 u. 6. Ebenso ist die Verbrüderung von Bettlern und
Fürsten durch Freude auszuschließen. Verbrüderung durch Freiheit wäre schon utopisch
genug. In der Fassung von 1803 hat Schiller diese gereimten Ungereimtheiten etwas geglättet.
Sie waren ihm immer noch so peinlich, daß er das Gedicht nicht in die neue Sammlung
aufnehmen wollte.
Auch der Chor machte eine ursprüngliche Freiheits-Fassung wahrscheinlich: eine so
weltumspannende Geste der Brüderlichkeit, die dazu ins Kosmische und in die Transzendenz
erhoben wird, kann mittelbar wohl nur einer Gemütsbewegung entspringen, die aus dem
Erlebnis der Freiheit hervorgeht.
Strophe 2: Alle Menschen, die Grund zur Freude haben, werden aufgefordert, in den
überpersönlichen Jubel (Freiheitsjubel?) einzustimmen.
Strophe 3: Die Parallelstelle aus „Don Carlos“ (s. oben) läßt hier zwingend auf die
Verbindung von Freiheit und Natur schließen. Die „Rosenspur“ (Vers 4) steht als Bild für die
Morgenröte. Es gibt aber in der zeitgenössischen Literatur keine Morgenröte der Freude, wohl
aber die Morgenröte der Freiheit. Näher liegt es auch, daß Freiheit ihre Erwählten küßt und
berauscht (Vers 5), wie auch Freiheit und nicht Freude einen „todgeprüften Freund“ schenkt
(Vers 6).
Strophe 4: Nicht Freude, sondern Freiheit hat Schiller in seinem Brief an Körner (s. oben) als
Triebfeder der Natur bezeichnet.
Aus dem Ergebnis der Interpretation wird auch Schillers vernichtendes Urteil über diese
Geschichte verständlich, das ja nicht die fehlerlose Form, sondern nur den Inhalt betreffen
kann: „... Die Freude ...“, schrieb er am 21.10.1800 an den Freund Körner, „ist nach meinem
jetzigen Gefühl durchaus fehlerhaft und ob sie sich gleich durch ein gewisses Feuer der
Empfindung empfiehlt, so ist sie doch ein schlechtes Gedicht und bezeichnet eine Stufe der
Bildung, die ich durchaus hinter mir lassen mußte...“. Immerhin ließ Schiller sich auf den
lebhaften Protest Körners, der das Lied 15 Jahre früher zur Zufriedenheit des Dichters
komponiert hatte, bewegen, „An die Freude“ mit drei glättenden Änderungen und unter
Auslassung der letzten Strophe in seine Sammlung von 1803 aufzunehmen. Mit großer
Sicherheit ist anzunehmen, daß die Änderung von Freiheit zu Freude politische Gründe hatte
und dem Dichter auch als persönliche Schwäche unangenehm blieb. Tatsächlich aber hatte
Schiller zur Zeit des Erstdrucks von seinem zuvor recht handgreiflichen politischen
Freiheitsbegriff schon einigen Abstand genommen. Die außerordentliche Popularität, die sein
Lied in den Revolutionsjahren erlangte (nur die Marseillaise und Schubarts 1. Kaplied wurden
in Deutschland noch populärer), berührte Schiller eher peinlich. Denn zu der Zeit war für ihn
der revolutionäre Freiheitsbegriff schon durch die Terreur der französischen Revolution und
die nachrevolutionäre Entwicklung kompromittiert. In seinem Brief an Körner vom 23.2.1793
propagiert Schiller eine ästhetische Freiheit als höchste Stufe individueller Entwicklung, zu
deren Erreichung es jenseits aller Unterdrückung von Natur und Vernunft allein geistiger und
moralischer Anstrengung bedürfe.
Beethoven, der die Fassung des Erstdrucks kannte und der vermutlich wie viele seiner
Zeitgenossen hinter der Freudeneinsetzung die ursprüngliche Freiheit erkannte, akzeptierte
und bearbeitete die geglättete Freuden-Fassung für seine 9. Symphonie. Eine
Wiederherstellung und Komposition des Freiheitstextes hätte mit Sicherheit die reaktionäre
Obrigkeit provoziert und zu Skandal und Aufführungsverbot geführt. Die unvergleichliche
kompositorische Kraft, mit der Beethoven das Gedicht des von ihm verehrten Schiller auf die
höchste Stufe symphonischen Geistes hob (die Freuden-Melodie entnahm er einem
Offertorium Mozarts, wie H.-W. Küthen kürzlich wahrscheinlich machte), - diese
musikalische Gestalt läßt am Ende philologisch-philosophisches Rechten unwichtig erscheinen. Unabhängig von der Textfassung ist das Finale der 9. Symphonie eine Apotheose von Freiheit, Freude, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Wie die Europahymne denn nun gesungen werden sollte? - Wer die Freiheitsfassung wählt,
kann sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf die Zustimmung des jungen Schiller
berufen. Dem klassischen Schiller aber kann man es weder mit der Freiheits- noch mit der
Freuden- Fassung rechtmachen. Darum sollte wohl der bewährte Grundsatz gelten: Im
Zweifel für die Freiheit.
(taz. die tageszeitung vom 05.11.1990, Inland, S. 17-18)